Die Ostsee-Tour 2011

04.06.2011

Es wird gesagt, das Entscheidende passiere im Kopf.“
Christoph Moder (Langstreckenradfahrer)

„Durch die Länge erlebt man komprimiert Hoch und Tief. Man ist sich dabei selbst ausgesetzt. So ist man selbst der sportliche und therapeutische Sparringpartner. Mit welcher Intensität kann man sich selber aushalten? Langstreckenfahren ist ein Ausdruck indvidualisierten Lebens unserer Zeit.“
M. (RAG-Teilnehmer)

Ich stehe absolut nicht auf „Burger King“.
Aber ich stehe jetzt hier mit meinem Rad an einem „Burger King“ in einer ziemlich finsteren Ecke Stralsunds neben der großen Rügenbrücke und warte auf Kleeni.
Ich beobachte die getunten Autos der Halbwüchsigen, die sich drüben versammeln, die Polizeifahrzeuge, die hier ihre Runden drehen und warte….
Ein wenig wie in Manhattan ist es hier. Na gut, ein ganz klein wenig 🙂
Es wird dunkel, ich friere, übermüdet, wie ich bin, zunehmend, wo aber bleibt Kleeni?

—-

Eigentlich habe ich überhaupt nicht geschlafen.
Die innere Anspannung ist so groß, dass ich immer noch wie unter Strom stehe und innerlich nicht zur Ruhe komme. Dazu ist noch ein gewisser Geräuschpegel im Haus, weil unsere Große erst gegen Mitternacht heim kommt. Und viel zu warm und stickig ist es sowieso.
Also kann ich kurz vor halb eins auch aufstehen.
Müde bin ich eigentlich auch gar nicht. Irgendwie wird das schon gehen.
Vorbereitet ist alles, ich esse etwas, das Rad ist schnell hergerichtet, alles verstaut, 1,5 Liter Mineralwasser im Rucksack, 2 Liter Apfelschorle am Rad.
Vor dem Austrocknen habe ich den größten Respekt.
Und dann, ein Uhr, sitze ich tatsächlich im Sattel und rolle zur Hauptstraße vor.
Wie auch immer das Ganze ausgeht – das Gefühl, wieder mal „on tour“ zu sein, ist schon genial.
Auch wenn es ein wenig still und finster ist. „Normale“ Menschen schlafen ja auch jetzt.
Am Lenker sind extra für die Nachtstunden zwei Frontscheinwerfer angebracht, die neue 40-Lux-Ixon-Lampe ist superstark, die leuchtet die Straße richtig gut aus. Dazu Warnweste, etliche Reflektoren, zwei Rücklichter, ein Blinklicht am Helm. Das sollte reichen, um gesehen zu werden.
„In Extremo“ im Ohr, das hält wach, ist laut und der Rhythmus ist schnell genug…
„Frei zu sein“ – treibt an, motiviert.
Die Strecke via Panitzsch, Taucha, Mutschlena, Reibitz nach Löbnitz bin ich so oft gefahren, die finde ich nun auch in dunkler Nacht, es rollt gut, auch wenn ich behutsam anfange. Aber auch jetzt schon lässt sich feststellen, dass die endlosen GA-Einheiten im letzten halben Jahr ihre Wirkung zeigen. Relativ schnell ist ein 25er-Schnitt erreicht, Reisegeschwindigkeit. Den möchte ich mindestens halten.
Eine Nachtfahrt ist für mich eine völlig neue Erfahrung. Damals, 2008, startete ich 3 Uhr, allerdings dämmerte es bereits 3.30 Uhr, so dass ich nur am späten Abend noch ein bis zwei Stunden in der Dunkelheit fahren musste. Heute jedoch ist es schon ein wenig gespenstisch.
Man ist völlig mit sich und der Dunkelheit allein, hat nur die Musik im Ohr, ist stets auf der Hut vor Wildtieren, welche unvermutet die Straßenseite wechseln könnten, ist hochkonzentriert, und das strengt natürlich enorm an.
Der Igel, der mir drohend seine Stacheln entgegenstreckt, ist womöglich noch etwas mehr erschrocken als ich. Und dann die kleinen Füchse, die verdutzt ins Scheinwerferlicht gucken…
Ganz schöner Betrieb des Nachts. Dann ein entgegenkommendes Auto, sehr langsam, sind die besoffen? Na ja… Das große Vergnügen ist das jetzt nicht.
2.58 Uhr mache ich in Muldenstein nach 50,57 km (1:59:30 Std.) die erste Rast.
Immer noch ist es stockfinster, obwohl seit Minuten im Nordosten ein ganz schwacher Schein den Morgen erahnen lässt.
Altjeßnitz, Raguhn, hier muss ich nun erstmalig genauer aufs Navi schauen, die Route kenne ich nur aus der entgegengesetzten Richtung.
Aber – kein Problem, nun geht es zügig nach Norden, gen Dessau.
Der Schein am Horizont wird heller, breiter, man kann allmählich die Silhouetten ringsum erkennen.
Noch einmal erhöht sich die Spannung im finsteren größeren Waldstück an der A9.
Hoffentlich rennt mir hier kein Wildschwein ins Rad…
Aber dann ist schon Dessau erreicht. Wunderschön die Mulde und Elbe im ersten Morgenlicht – das muss aufs Foto. Weniger angenehm sind allerdings wieder einmal die miesen Radwege in der Stadt.
Vor Tagen hatte ich mich kurzerhand noch einmal anders entschlossen, und wollte eigentlich die kürzere Strecke via Wittenberg nehmen. Doch gestern Abend, beim intensiveren Nachdenken war der Respekt vor einer Nachtfahrt durch die Dübener Heide so groß, dass ich doch lieber die sicherere Strecke über Dessau, Wiesenburg wählte.
Sollte mir hier etwas zustoßen, wäre die nächste Ansiedlung und Hilfe nicht weit. In der weitläufigen Dübener Heide dagegen wäre ich aufgeschmissen.
Aber dieser Umweg wird mich auf jeden Fall mindestens 20 Kilometer Umweg kosten.
Ich habe Roßlau hinter mir gelassen, es wird hell, über dem Fläming, den ich nun in einem guten Tempo überquere, geht die Sonne auf.
Es ist einfach ein tolles Gefühl, jetzt doch recht entspannt in diesen Tag hinein zu rollen.
Warum sollte das heute nicht zu schaffen sein?!
Schon 100 Kilometer zurück gelegt, es rollt super.
100 Kilometer, noch keinerlei Verschleißerscheinungen, alles ist bestens.
Die letzten Spuren von Müdigkeit wurden mit dem Morgenlicht und dem permanenten Gegenwind auch davon geblasen. Auch der Wind ist bisher nicht so stark, wie befürchtet, das ist noch auszuhalten. Eigentlich wurde NO 2-3 angesagt.
Zeitweise gelingt es sogar, diesen Wind durch Konzentration aufs Kurbeln völlig auszublenden. Na und…
Dann muss man eben herunter schalten und die Frequenz erhöhen. Geht doch.
Kurz vor Medewitz, mitten im Wald, mache ich die zweite Rast. (5.22 Uhr – 5.30 Uhr, 102,36 km,
4:02:55 Std.)
„Nur“ noch 400!
Hmmm… So herum darf ich wohl eher noch nicht rechnen.
Wiesenburg, die Baustelle, dich ich noch vom Karfreitag kenne, auch heute muss ich schieben, dafür habe ich auf den nächsten 7 Kilometern die Straße für mich ganz allein. Görzke, der Abzweig nach Brandenburg.
Die Wälder sind endlos, etwas später erreiche ich die kleine Straße, auf der ich am Karfreitag aus Kloster Lehnin eintraf. Nun ist auch Brandenburg nur noch wenige Kilometer entfernt.
Aber zunächst muss ich mich der allzu warmen Jacke entledigen, die kann ich Kleeni nachher zum Trocknen ins Auto hängen. Und die Sonnenbrille ist nun auch angebracht. Schon der Fliegen wegen.
Nach Brandenburg hinein kommt man schnell, dann aber verliert sich die Route im Gewirr kleiner Kopfsteinsträßchen und –gäßchen, so dass ich ziemlich durchgeschüttelt einige Zeit verliere, ehe ich die Stadt hinter mir lassen kann.
Zum Fotografieren fehlt mir auch die rechte Lust, also weiter.
Nächste Rast, ein wenig außerhalb von Brandenburg. (7:55 – 8.05 Uhr, 159,40 km, 6:17:48 Std.) Alles ist i.O.
Nur der Wind weht mittlerweile unangenehm frontal entgegen. Das Havelland ist sehr flach, weitläufig, es gibt kaum Wald, so wirkt es auf Grund der großen Felder über die nächsten 30 Kilometer bis Nauen etwas öde. Ketzin, wo man auf der „Hauptroute“ mit der Fähre über die Havel setzen kann, ist 15 Kilometer entfernt. Ich treffe auch einige Zeit später in Nauen wieder auf die originale Route, welche Martin Götze auf der offiziellen Ostsee-Tour fuhr und welche auch die Fichkona (zumindest in diesem Abschnitt) benutzt.
Entlang der Bundesstraße gibt es Radwege, prima, denn der Autoverkehr parallel zum westlichen Berliner Ring ist doch auch recht intensiv. Nun wird es auch wieder waldreicher, der Wind stört nicht mehr so, allerdings wird es nun mit steigender Sonne immer heißer. Na ja, alles kann man nicht haben.
In Erinnerung habe ich aber trotzdem die moderaten Temperaturen bei der Ostseetour 2008 und den schönen SW-Wind. Trotzdem ist es natürlich immer noch besser als Sturm oder Dauerregen.
Irgendwo hier im Wald sehe ich nun auch die heutige „200“ auf dem Fahrradcomputer.
Kremmen – auf dem Navi ist nicht viel zu erkennen, die Sonne scheint von vorn, das Display spiegelt, es muss hier doch bald mal in Richtung Rheinsberg gehen.
Aber irgendwie habe ich geschlafen oder nicht richtig hingeguckt. Auf jeden Fall beschert mir diese Unachtsamkeit einen kleinen Umweg von 5 Kilometern. Hauptsache, das rächt sich später nicht.
Kremmen ist recht groß, Kleeni wollte hier eigentlich Punkt 12 eintreffen.
Doch es ist erst halb elf. So lange warte ich nicht, der Ort ist auch recht groß, wir würden uns nur verfehlen.
Vor Sommerfeld ist dann die nächste Rast. (10:40 Uhr, 220,84 km, 8:46:10 Std.) Es ist heiß, es ist immer noch windig, allmählich befürchte ich, auszutrocknen.
Ich muss unbedingt noch mehr trinken, an Nachschub ist nachher kein Mangel, im Auto gibt es genug. Und bis Rheinsberg sind es noch 30 bis 40 Kilometer.
Dazu ein Apfel, eine Banane, ein Stück Brötchen mit Käse…
Weiter. Lindow am Gudelacksee. Wald, dann wieder flirrende Sonne über den Feldern.
Sengende Hitze an einer Kirchenmauer, wo ich kurz anhalte, um zu trinken. Endlose Wälder in der Mark bis Rheinsberg. Eine wunderschöne Landschaft ist das hier im Norden von Berlin. Hier würde ich jederzeit wieder gern Urlaub machen.
Unweit liegt Schulzenhof, ich habe die Bilder im Kopf vom kleinen Gehöft der Strittmatters im Bachtal am Ende der Welt. Die Grabsteininschrift: „Seht, der Nebel geht über die Wiesen“…
Der Stechlin… Finnland vor der Haustür.
Kurz vor Rheinsberg die berüchtigte Schiene. Hier gab es den Sturz bei der Martin-Götze-Tour.
Kein Wunder bei dem Winkel, in dem diese die Straße quert. Da hat man im Fahrerfeld keine Chance.
Mit Kleeni habe ich mich nun per SMS abgestimmt, wir werden uns gleich hier hinter Rheinsberg treffen. Das Städtchen, nett anzuschauen mit seinen klassizistischen Häuschen, ist voller Touristen. Kurze Holperstrecke, Pflaster, dann, schneller als gedacht, bin ich schon am Ortsausgang und einen Kilometer weiter bietet sich ein überdachter Tisch am Straßenrand inkl. Möglichkeit für Kleeni zum Parken ideal zur Mittagspause an.
Zwei Minuten später ist auch Kleeni da. Das klappt! Er hat beim Italiener einen Teller Nudeln aufgetrieben.
Leider bekomme ich nur die Hälfte in mich hinein, irgendwie ist es mir zu warm und nach 263,54 Kilometern habe ich im Augenblick nicht den rechten Hunger. Dazu Cola, Malzbier, Maltose-Tabletten mit Magnesium. Das muss helfen – und hilft auch!
(12:45 – 13:35 Uhr, 10:25 Std.)
Die Pause kommt mir leider nur sehr kurz vor.
Wie war das 2008, da schien mir die Mittagsrast wesentlich länger, obwohl das auch nur eine ¾-Stunde war. Trotzdem fühle ich mich einigermaßen gut, besser, als vor der Rast, fit zum Weiterfahren.
Wir verabreden uns in Brustorf, nördlich von Neustrelitz gegen 16 Uhr.
Die Route kann jetzt eigentlich schöner nicht sein, es geht im welligen Auf und Ab durch weite Wälder, zwischen den Bäumen schimmern die Seen mit Booten, viele Familienradler sind unterwegs. Ich durchquere Zechliner Hütte, Canow, wenig weiter Wesenberg.
Die Hügel werden von hier ab etwas intensiver, nach Useriner Mühle geht es doch mal ganz schön hoch und herunter.
Roland, ein Kollege, der mit Martin Götze die Tour fuhr, hatte mich gefragt, weshalb ich nicht einfach mit dem Martin fahren würde…
Tja, warum nicht?
Ein wesentlicher Grund dagegen ist für mich nach wie vor das Gefühl, mit solchen Leuten, die meiner Meinung nach wesentlich stärker als ich sind, wenn sie mit einem 30er Schnitt bis Rügen düsen, mithalten zu müssen und bei dieser schnellen Fahrt keine Zeit für das Ringsherum zu haben.
Dann kommt dazu die hohe Sturzgefahr im Feld, gerade bei nachlassender Konzentration… Mein Ehrgeiz, diese Strecke in voller Länge ausschließlich durch eigene Kraft und nicht mit Hilfe vom häufigen Fahren im Windschatten zu bewältigen ist ein weiterer Grund dagegen…
Ein wenig wehtun muss es ja schließlich auch 😉
Es ist ein tolles Gefühl, völlig allein auf sich selbst gestellt, mit seinen persönlichen Krisen fertig zu werden. Genau wissen, es gibt niemanden, an den man sich hängen kann, wenn man nicht mehr kann, sondern dass man sich und seine augenblicklichen Schwächen auch nur selbst besiegen kann.
Einfach weiter zu fahren, weil der eigene Kopf es so entschieden hat.
Es ist also vor allem die Freiheit, alles auf solch einer Tour selbst bestimmen und entscheiden zu können und zu müssen.
Neustrelitz streife ich nur, hier erreiche ich heute die „300“.
Noch „200“ bis zum Kap. Das klingt schon besser. Nachdenken darf ich aber jetzt darüber nicht wirklich, denn das ist ja trotzdem noch fast ein Spreewaldmarathon, den ich jetzt am Nachmittag vor mir habe.
Nun wieder Bundesstraße, der Verkehr hält sich in Grenzen, man vermeidet auf diesem Abschnitt aber wohl mögliche Kopfsteinpflasterpassagen in den Dörfern.
Brustorf… (15:32 Uhr, 309,62 km, 12:18 Std.)
Ich sitze am Straßenrand, bin hier etwas zeitiger als gedacht angekommen. Kleeni ist noch unterwegs.
Was ich sehr aufmerksam und freundlich finde, ist, dass plötzlich ein Auto mit zwei jungen Kerlen hält, die mich fragen, ob alles ok ist und erst nach meinem „alles bestens“ weiter fahren. Wirklich nett… Habe ich so noch nicht erlebt.
Nach zehn Minuten Pause beschließe ich, nicht auf Kleeni zu warten. Das ist alles gewonnene Zeit, das sind Kilometer, die ich schon „fressen“ kann.
Apropos Fressen… Irgendwie scheint mein Magen zu murren. Das Essen geht in dieser Hitze nicht mehr so recht. Ein Alarmzeichen, welches ich sehr wohl kenne und dringend beachten müsste.
Ich schicke Kleeni eine SMS, er soll sich Zeit lassen, nächster Treff ist kurz vor Stavenhagen.
Was ich allerdings nun überhaupt nicht ahnte, ist, dass die Gegend um die Müritz hier ebenfalls sehr wellig ist. Und die Bundesstraße, die ich ab Penzlin in Richtung Waren ein Stück befahre, nimmt jeden Huckel mit. Das ist schon ein wenig übel. Dazu habe ich ein flaues Gefühl im Magen, die Kraft lässt etwas nach und der Wind weht natürlich auch hier ohne Unterlass, auf dem großen Kettenblatt geht zur Zeit nix.
Möllenhagen, oben auf dem Berg – jeder Hügel kommt mir im Augenblick wie ein Berg vor, doch dann geht es abwärts. Aber nicht für lange, die restlichen 14 Kilometer bis Stavenhagen sind natürlich wieder ausreichend mit Wellen ausgestattet.
Kurz vor Stavenhagen steht dann aber zum Glück Kleeni, der mich zwischenzeitlich überholt hatte, mit seinem Auto im Schatten und wartet.
Ein Schluck Cola, dazu ein Brötchen, den Magen füllen… Nur keinen Hungerast jetzt!
Und das hilft spürbar. Zumindest ein Stück weit.
(17:35 Uhr, 350,73 km, 13:54 Std.)
Stavenhagen ist durchquert, bis Demmin rollt es sich nun relativ angenehm, abgesehen vom Wind und den üblichen Hügeln.
Ich werde den Verdacht manchmal nicht los, dass man an geraden Stellen extra noch einmal eine schöne Brücke eingebaut hat, damit der ahnungslose Radfahrer in Stimmung bleibt.
Demmin – bin wieder ziemlich unten im Stimmungs- und Konditionstief, kurzer Anruf von Kleeni, ich soll die Bundesstraßenumgehung um Loitz nutzen.
Dass auch hier wieder Hügel lauern war klar, dass aber hier im Küstenhinterland der Wind in den Abendstunden noch zu- statt abnimmt, war nicht so gedacht.
Mit zunehmendem Frust kurbele ich frontal gegen die steife Brise aus Nordost, langsam spüre ich, wie ich einbreche und der Wunsch Gestalt annimmt, diese Schinderei doch endlich zu beenden und die Karre in den nächsten Straßengraben zu schmeißen.
Es gibt doch bekloppte Leute… Und heute gehöre ich offenbar dazu. Wie kann man sich freiwillig so etwas antun.
In Poggendorf (auf der Anhöhe) auf dem Parkplatz steht Kleeni wieder, die letzte Etappe war von Stavenhagen bis hierher 50 Kilometer lang, das war mir doch echt etwas zu viel.
Jetzt bin ich stimmungsmäßig richtig am Boden, gebe ich auf?
Der Magen murrt, jedoch bekomme ich nichts hinein. Aber der warme Kaffee ist jetzt ein Gedicht, damit beuge ich dem fälligen Schüttelfrost vor, noch ein Schluck Cola, Mineralwasser, dann doch noch eine Banane, Maltosetabletten…
(20:00 Uhr, 400,36 km, 15:59 Std.)
Wie nun weiter?
An Dagi schicke ich eine SMS „Der Wind ist furchtbar, bin ziemlich fertig“.
Sie antwortet mir: „Aber Du bist immer noch im Zeitplan!!!“
Wahnsinn, das mobilisiert Reserven. Sollten wir es doch weiter versuchen???
Wir werden uns in Elmenhorst, kurz vor Stralsund, noch einmal treffen und dann entscheiden. Bis dahin komme ich, das ist nicht mehr sehr weit.
Erstaunlicherweise haben die 10 Minuten Pause ausgereicht, um mich wieder gut zu regenerieren.
Grimmen passiere ich sehr rasch auf der Umgehungsstraße, es rollt plötzlich unheimlich gut.
Und dank der Kompaktkurbel geht jetzt sogar noch etwas auf dem großen Blatt.
Abthagen, Abzweig, dann kurz darauf schon Elmenhorst, es dämmert langsam.
22 Kilometer waren das in einem Supertempo. Wo kam der unvermutete Schwung nur her?
Mit dem könnte ich gegen Mitternacht oder etwas später wirklich am Kap oben sein.
Absprache mit Kleeni – ich lege meinen „Kriegsschmuck“ an, also zunächst die Lampen, es dämmert, dann fahren wir getrennt hinüber nach Rügen und treffen uns in Rambin. Es sind 26 Kilometer bis dahin.
Ich wollte ursprünglich die sichere ruhige Landstraße über Garz nehmen, doch das bedeutet einen erneuten Umweg von 10 Kilometern. Und 10 Kilometer erscheinen mir jetzt doch extrem viel.
Also andere Entscheidung, ich fahre die stark frequentierte Hauptstraße nach Bergen, halte mich so weit wie möglich am Straßenrand und mit Warnweste und Reflektoren denke ich, wird man mich nicht übersehen. Zudem wird Kleeni in jedem Dorf stehen, bis ich durch bin und dann ins nächste Dorf fahren und erneut auf mich warten. So wäre er schnell zur Stelle, wenn etwas Unvorhergesehenes passieren sollte.
Der abendliche Wolkenhimmel ist sehr beeindruckend, zumal hier oben an der Küste auch die Luft viel klarer ist.
Auf einer Betonplattenspur kämpfe ich mich bis zum Stadtrand von Stralsund durch, 21.35 Uhr stehe ich am Ortsschild. Wenigstens davon mache ich jetzt noch ein Foto – der Optimismus wächst. Nur noch die Insel…
Dann wieder Straße, Vorstadt, Gewerbegebiete, bald sehe ich die Kirchtürme der alten Stadt vor mir.
Stralsund – das „Nah“-Ziel ist geschafft!
Dort ist auch schon die große neue Rügenbrücke zu sehen, der große Pylon, ein eindrucksvolles neues Wahrzeichen von Stralsund.
Und dann bin ich kurze Zeit später schon direkt unter der Schnellstraße, die auf die Brücke führt und hier irgendwo muss ja auch die Zufahrt zum alten Rügendamm sein. Theoretisch… Dachte ich…
Aber da ist nur ein „Burger King“ und dahinter stehen eine Menge Bauzäune und die Straßenführung ist sehr unübersichtlich.
Wo geht es denn hier hinüber auf die Insel?!
Ich radele suchend hin und her, aber es ist keine Möglichkeit, die Zufahrt zum alten Rügendamm zu finden. Die Einheimischen, ein junges Pärchen, welche ich frage, sind ebenso ratlos. Ja, hier sei alles gesperrt, da wäre alles zu…
Aber vielleicht (?), wenn ich da hinter fahren würde und dann links und dann unten und hinten und sonst wo herum… Gut, ich versuche es, doch die eine Straße endet in der Werft, die andere als Sackgasse in einem Gewerbegebiet. Allmählich werde ich unruhig. Das kann es jetzt nicht sein, dass das ganze Unternehmen hier an dieser blöden Brücke scheitern soll?!
Welche Alternativen habe ich?
Im Augenblick eigentlich nur, Kleeni, der in Rambin wartet, anzurufen und ihn zu bitten, mich hier abzuholen und auf die Insel zu bringen, wo ich dann weiter fahren kann. Rambin ist nicht weit weg, er müsste schnell hier sein können.
Seine Frage am Handy, wo ich stehen würde, ist allerdings schwer zu beantworten. Es gibt kein Straßenschild weit und breit… Also kann ich ihm nur ziemlich diffus Bescheid geben – ich bin an der vermutlich letzten Ausfahrt des Rügenzubringers auf dem Festland, am „Burger King“ eben…
Ok, er kommt.
Und nun stehe ich hier mit meinem Rad am „Burger King“ in einer ziemlich finsteren Ecke Stralsunds neben der großen Rügenbrücke und warte auf Kleeni.
Es wird langsam richtig dunkel, ich friere zunehmend, wo aber bleibt er? Die Zeit vergeht… Viel Zeit…
Er müsste längst hier sein. Nach einer halben Stunde rufe ich ihn erneut an…
So ein Mist, er ist offensichtlich zu weit gefahren, befindet sich an der Straße, die er von Abthagen gekommen ist. Nächster Versuch, ich werde ein Straßenschild finden müssen und rufe ihn dann noch einmal zurück. Minuten später in diesem Durcheinander hier, der Verkehr ist auch noch recht intensiv, entdecke ich hinter den Bauzäunen in einer finsteren Ecke tatsächlich ein Schild – „Greifswalder Chaussee“.
Kurzer Anruf, ich gebe das durch, gut, er macht sich auf den Weg. Wieder vergeht einige Zeit, Kleeni ist nicht zu sehen.
Nun ist es richtig dunkel.
Ich beginne zu rechnen. Aber das sieht nicht gut aus. Wenn es noch später wird, habe ich eine lange zweite Nachtfahrt vor mir. Da bin ich bis halb vier unterwegs. Denn noch sind es 70 bis 80 Kilometer, das zieht sich gewaltig hin.
Lasse ich mich aber bis Bergen fahren oder gar Sagard, um mir die Straße, die sowieso keinen Spaß machen wird, zu schenken?!
Doch das wäre ja Betrug an mir selbst. Tja… Und dann wächst allmählich auch innerlich ein Widerwillen, überhaupt noch einmal aufs Rad zu steigen. Die Augen brennen, sind schwer, ein Schüttelkasper wäre vorprogrammiert.
Und das alles nur, um im Dunkeln an diesem „dämlichen“ Kap Arkona zu stehen und DAS Foto zu machen?
Mit meiner Müdigkeit im Nacken riskiere ich womöglich auf Grund meiner verminderten Aufmerksamkeit noch einen Unfall…
Aber was sage ich all denen, denen ich großspurig von der Tour ans Kap erzählt habe und die heute möglicherweise mitgefiebert haben?! Ende in Stralsund wegen dieser doofen Brücke?
Kleeni ist nicht in Sicht, es ist 22.45 Uhr.
Ich rufe ihn wieder an. Wo ist er jetzt?
Prima, er steht an irgendeinem Bauzaun, kommt nicht weiter. Nun kann ich mit etwas Mühe sogar noch eine Hausnummer finden. Ob die stimmt, weiß ich nicht?
Na ja, einen Versuch ist es wert. Greifswalder Chaussee 5. Am „Burger King“ eben. Drüben kontrolliert die Polizei gerade die Autos von ein paar Jugendlichen.
Tolle Ecke hier. Vorbeifahrende Leute mustern mich in meiner Kluft ebenfalls. Irgendwie scheine ich hier nicht her zu passen.
23.10 Uhr.
Ah, das Auto da drüben kommt mir bekannt vor.
Kleeni kurvt auf den Parkplatz am „Burger King“, sucht mich, ich beeile mich, die Straße zu wechseln, ich stehe ja hier auf der anderen Seite.
23.15 Uhr.
Ich denke, wir brechen das Ganze hier ab. Eine zweite Nachtfahrt will ich nicht mehr.
Es ist kühl, mir ist kalt, ich bin müde und habe absolut keine Lust mehr, aufs Rad zu steigen.
Das Kap Arkona ist mir im Augenblick völlig egal.
Nur rein ins Auto, ins Warme und die Augen zu machen. Das ist das Einzige, was jetzt zählt.
Die Beine sind nun auch ziemlich schwer. Sicher, es würde mit viel Willen schon noch ein ganzes Stück weit gehen, aber eben dieser Willen fehlt mir jetzt völlig. Schade, aber nichts zu machen.
Keiner ist da, der mir jetzt in den Hintern tritt, mich antreibt…
Kleeni scheint auch froh zu sein, die für ihn endlose (Tor)Tour beenden zu können. Klar, er ist sicher auch müde, das permanente Warten auf mich strengt an, strapaziert die Geduld, nervt… Auch wenn er sich mit seinem Buch die Zeit wenigstens etwas vertreiben konnte.
Minuten später haben wir alles im Auto verstaut, Rad, der ganze andere Kram, uns selbst…
Es ist vorbei.
Für dieses Jahr!
Auf dem Fahrradcomputer stehen 434,80 km in 17:27 Std. Nettofahrtzeit.
Ich war etwas langsamer als 2008, doch da gab es weniger Hügel und vor allem weniger Gegenwind.
Aber eine so weite Strecke habe ich noch nie auf dem Rennrad nonstop zurück gelegt.
Die aufkommende Enttäuschung in mir versuche ich zu unterdrücken.
Ich werde es noch einmal versuchen müssen

Die Route auf gpsies.com

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