Die Ostsee-Tour 2008

Zweenfurth – Warnemünde oder
Treffpunkt am Teepott
 
Vielen Dank an meine Familie und Mike, ohne die diese Tour nicht möglich gewesen wäre.
Der Höhepunkt 2008 ist Geschichte. Am 14.06.2008 bin ich sie nun endlich gefahren, meine Tour der Touren, die Tour von Zweenfurth nach Warnemünde.
 Lange Zeit, ein halbes Jahr, habe ich mich darauf vorbereitet und alle bisherigen Radtouren 2008 bin ich im Prinzip nur in Vorbereitung dieses einen Zieles gefahren.
Das begann mit der Steilen Wand von Meerane, führte über den ersten echten Langstreckentest bei der Fläming-Runde über den Spreewald-Marathon und schließlich der Weimar-Holzland-Runde bis zu dieser großen Tour.
Nicht genannt sind die ganzen kleineren Strecken innerhalb der Woche und die übrigen Hunderter, die ich als Trainingsfahrten absolvierte. Vorbei, gelöst ist die Anspannung, die Konzentration nur auf diesen einen Tag, vorbei ist das Kreisen meiner Gedanken nur um diesen einen Punkt.
Die Fragen, ob ich nach den 200ern und 300ern auch noch in der Lage bin, einen 400er zu fahren, wie ich diesen psychischen Kampf auch auf den letzten 100 Kilometern überstehen würde, sind beantwortet. Vorbei sind die ungezählten Blicke auf die Prognosen von wetteronline.de, die Sorge, wie sich der Wind in welcher Stärke aus welcher Himmelsrichtung entwickeln würde. Die erwartete Euphorie ist nun aber auch noch nicht in so einem ausgeprägten Maße eingetreten, sondern im Augenblick hat die Spannung einem ruhigen zufriedenen Gefühl Platz gemacht.
 
Notwendige Vorbetrachtung (für alle, denen das Verständnis für solchen Unfug fehlt)
Als ich vor zwei Jahren mit dem Rennradfahren begann, tat ich das zunächst nur als notwendige Trainingsergänzung für meine Radreisen, die ich zu unternehmen gedachte. Erst mit der Tour quer durch Sachsen nach Görlitz im April 2006, dem zweiten 200er in meinem Leben, änderte sich diese Einstellung. Dazu kam der Stachel, den mir den Rennradler aus Fuchshain mit seiner beiläufigen Bemerkung hinterließ, er sei früher auch mal von Leipzig nach Rostock gefahren.
Leipzig-Rostock an einem Stück, meine Hochachtung. Respekt…
Doch das war nichts für mich, das lag für mich völlig außerhalb der eigenen Fähigkeiten und Vorstellungskraft. 
In dem Maße, wie sich aber meine persönliche Grenze beim Langstreckenfahren in den letzten beiden Jahren nach oben verschob, so wuchs auch das Interesse an noch längeren Touren. 
RTFs im Bereich von 100 bis 150 Kilometer, organisiert, im Pulk von vielleicht 100 Fahrern, Rad an Rad, waren mir zu schnell und zu gefährlich. Holgers Sturz mit Schlüsselbeinbruch im letzten Jahr ist mir da noch sehr lebhaft in Erinnerung. Als die bessere Alternative erschienen mir zunehmend wesentlich längere, aber dafür ausschließlich selbst vom eigenen Leistungsvermögen und Geschmack bestimmte Touren. 
Herrlich war vor allem die Auersberg-Keilberg-Tour, die „Königstour 2006“, im August 2006 mit 250 Kilometern, bei der ich zum ersten Mal das besondere Gefühl bei bzw. nach einer ganz langen Tour spürte. Allerdings waren die Nachwirkungen am jenem Abend dann nicht ganz so toll. Außer Gurkensalat und Bier 😉 ging da nichts mehr.
So stieß ich schließlich im Winter 2006/2007 auf die Randonneure, eine Szene von ganz harten Fahrern, die offensichtlich nicht tempobestimmt fuhren, sondern deren Ziel im Absolvieren langer und noch längerer Strecken liegt, und bei denen ausschließlich das Ankommen innerhalb eines größeren Zeitrahmens zählt, man also Tempo und Fahrweise vollkommen selbst bestimmen konnte. Das gefiel mir ausnehmend gut, nach dem Mailkontakt mit Olaf Hilgers aus Altenbach tendierte ich sogar sehr stark in diese Richtung, bis… Ja, bis mich dann doch etwas daran störte.
Und das war wieder einmal die Tatsache, dass diese Fahrten von Anderen geplant und organisiert verliefen. Olaf plante, es gab ein festes Programm von Brevets mit einem sehr großen Ziel, 2007 zum Beispiel Paris-Brest-Paris. Die Leute dort fuhren ebenfalls auf diesen Distanzen eindrucksvoll schnell, zu schnell für mich. Und die Erfahrung beim Spreewaldmarathon gab mir dann schließlich Recht, es handelte sich tatsächlich um Spezialisten, die von ganz anderer Statur und Konstitution als ich zu sein schienen. Das war mir dann doch zu hart, so kompromisslos könnte und würde ich nicht fahren wollen! Das würde mein Familienleben auch gar nicht zulassen, denn das müsste dann voll und ganz ausschließlich nach meinem Hobby ausgerichtet sein.
Ohnehin denke ich, dass ich den familiären Spielraum schon genügend ausreize und nicht noch weiter strapazieren kann. Das hieße, die Toleranz meiner Frau und der Kinder unnötig und egoistisch auszunutzen. Und das möchte ich nicht.
Nach der Höllentour 2007 im Juni hatte sich für mich auch das Thema Langstrecke im Gebirge zunächst auf Wochen hinaus erledigt. Selbst nur vom Radfahren an sich hatte ich die Nase gestrichen voll. Bei dieser Tour in einer schwülen Gluthitze von dreißig Grad und drei Gebirgsüberquerungen, zweimal über das Erzgebirge und einmal übers Böhmische Mittelgebirge, war ich an meine persönliche Grenze gekommen und hatte diese möglicherweise schon überschritten. Das konnte nicht gesund sein! Ich musste, wenn ich das weiter betreiben wollte, anders an die Sache herangehen.
Zunächst sollte man vor solchen Touren eine entsprechende Strategie in Bezug auf Vorbereitung, Ernährung, Trinken, Logistik erstellen.
Das hatte ich bei den zurück liegenden Touren einfach nicht getan. So ging es mir also nach „Quer durch Sachsen 2006“, der „Königstour 2006“ und der „Höllentour 2007“ nicht wirklich gut, ich fühlte mich völlig kaputt und zerschlagen. Hauptursache waren die nur intuitiv und erst auf der Tour situationsbedingt gesetzten Pausen. D.h., ich machte erst Pausen, wenn der Körper sich energisch meldete und der Leistungsabfall schon zu groß war, statt vorausschauend und vorbeugend zu rasten. Auch die Ernährung stimmte nicht, ich aß zu wenig, bekam einen Hungerast, trank zu wenig, der Kreislauf spielte verrückt, alles Erscheinungen, die mir den Spaß und letztendlich auf längere Zeit hinaus die Lust auf weitere große Touren verdarben.
Zwinki, ein radverrückter Mensch aus dem Raum Dresden, lieferte dann auf seiner Internetseite letztendlich die wertvollsten Hinweise zur Vorgehensweise bei der Planung und Durchführung von großen Touren. Und diese Hinweise musste ich im Prinzip nur beherzigen und an mir austesten.
Der Stachel Leipzig-Rostock saß tief. Irgendwann würde ich das vielleicht einmal fahren wollen.
Ich konnte mich erinnern, dass auch der Rennradbegeisterte Freund unseres Nachbarn diese Tour schon einmal versucht, aber nicht bestanden hatte. Und dann gab es auch Internet-Seiten zur jährlich stattfindenden „Tour de Ostsee“, einem organisierten Radmarathon, geführt von Martin Götze, mit einer begrenzten Teilnehmerzahl von ca. 90 Leuten. Doch das wäre wieder ein Kreis von Spezialisten, denen ich mich nicht gewachsen fühlte. Die Informationen allerdings allein genügten, um mich mit dem Gedanken an solch eine Distanz näher zu beschäftigen.
In diesem Jahr hatte ich, nach der Tour de Suisse 2006 und der Tour de Böhmen 2007 keine Mehrtagestour geplant. Ein Ziel musste aber her, um mich für ein regelmäßiges Training zu motivieren, der Anreiz, nur zu fahren, um fit zu bleiben, ist da nicht ausreichend. Also grub ich Ende 2007 das Vorhaben „Zweenfurth – Rostock“ wieder einmal aus. Aber wie vorbereiten?
Das Studium an der VWA war abgeschlossen und lag weit zurück, so konnte ich nun schon ein wenig mehr Zeit ins Radfahren investieren. Unser Familienleben ließ jedoch ein konsequentes regelmäßiges Training in festgelegten Intervallen einfach nicht zu.
Also wurde der etwas diffuse Plan gefasst, wenigstens erst einmal ab dem Frühjahr monatlich einen Marathon zu absolvieren, die Distanzen zu steigern, und in Vorbereitung dieser Marathons gezielt Trainingstouren zu fahren. Sollte ich die Ostsee-Tour 2008 tatsächlich fahren, dann würde das sein, wenn die Tage am längsten sind, also im Juni! Entscheidende Voraussetzung natürlich, ich würde auch jemanden finden, der zu solch einem Unfug bereit wäre und mich mit dem Auto begleiten könnte. Der Beginn dieser Vorbereitungsphase mit der 135-km-Tour im Februar über die legendäre Steile Wand von Meerane (einmal muss man als Radfahrer auch da hoch geradelt sein!) gab Grund zum Optimismus. Meine Fitness schien schon im Februar wesentlich besser als in den vergangenen Jahren zu sein. Der als nächstes Teilziel geplante Karfreitagsmarathon fiel dann aber leider dem Wetter, dem verspäteten Wintereinbruch, zum Opfer, es gab demzufolge Einiges aufzuholen. Der folgende Marathon war für April vorgesehen, dazu kam mir plötzlich, unvorhergesehen, die Idee, zusätzlich am Spreewaldmarathon teilzunehmen und das als weiteren Fitnesstest zu nutzen. Zumal die Aussicht auf Original Spreewälder Gurken sehr verlockend war.
Die Zeit wurde knapp. „Fläming-Heide-Runde“, 11.04.2008, mein erster Dreihunderter. Diese Tour war für mich tatsächlich die erste sehr lange Tour, bei der ich diszipliniert ein Pausen- und Ernährungsregime einhielt – Pausen aller zwei Stunden und kohlenhydratreiches Essen und Trinken. Und das wurde zum vollen Erfolg, wovon ich selbst sehr überrascht war, hatte ich doch mit ganz anderen Nachwirkungen gerechnet! Zum ersten Mal hatte ich nach den Pausen keine schweren schmerzenden Beine. Im Gegenteil, ich fühlte mich tatsächlich bis zum Ende erstaunlich frisch und hatte ständig das Gefühl, noch lange nicht am Ende meiner Kräfte zu sein.
Nur ein völlig neuer Effekt trat auf. Nach ca. 280 Kilometern setzte eine psychische Phase ein, in der ich auf Grund der Eintönigkeit des endlosen Kurbelns einfach mangels Lust und Laune hätte aufhören und das Rad in die Ecke stellen können. Diese Phase erwartete ich dann auf der Weimar-Holzland-Runde schon ganz gezielt und als die schließlich eintrat, konnte ich diese Momente locker weglächeln.
Der Spreewaldmarathon brachte wiederum Euphorie pur, die Stimmung war nicht zu übertreffen, es war eine wunderschöne Fahrt mit allem Drumherum, zumal es innerhalb von einer Woche der zweite Ausdauertest für mich war.
Die folgenden Touren „Mulde-Zschopau-Adelsberg“ (130 km) mit etlichen heftigen Anstiegen (bis zu 14%) und schließlich die 314-km-„Weimar-Holzland-Runde“ ebenfalls mit einigen knackigen Bergen sollten durch zahlreiche Höhenmeter noch einen zusätzlichen Schub in Bezug auf Psyche, Ausdauer und Kraft bringen. Würde ich den Holzland-Marathon mit 300 km und 2100 Höhenmetern inkl. der Anstiege gut bewältigen, dann wäre die Generalprobe für „Zweenfurth – Rostock“ bestanden.
Und es rollte! Die Generalprobe verlief erfolgreich, was konnte nun noch geschehen?! Zudem waren auf der Ostsee-Route keine großen Anstiege und Berge einzuplanen. 
„Zweenfurth – Rostock“, die Ostsee-Tour 2008, am 14.06.2008 wollte ich es versuchen.
Die Spannung stieg ungeheuer, zumal ich auf der 118-km-Fahrt bei 29°C Hitze am 08.06.2008 plötzlich mehr Probleme (Flüssigkeit) als vermutet bekam. Hoffentlich würde es am 14.06. nicht so heiß werden! Planmäßig änderte sich aber Mitte dieser Woche das Wetter. Die Hitze und Trockenheit wich wechselhaftem, windigen und zeitweise regnerischen Wetter. Das war ideal, nur die angesagte Windstärke 3-4 aus West, da wäre viel und heftiger Gegenwind zu befürchten… Sollte ich besser in Warnemünde starten?
Von entsprechenden Zweifeln geplagt, verliefen die letzten Tage vor dem 14.06.2008. Die Prognosen variierten leicht, der Wind könnte demzufolge auch aus Südwest wehen. Dauerregen war nicht angesagt, doch auch den war ich seit der „Fläming-Heide-Runde“ eigentlich gewöhnt.
Und dann am 12.06.2008 fasste ich schließlich den Entschluss, in Zweenfurth zu starten. Falls das ein Fehler wäre, würde ich mir das nicht verzeihen können, denn ich hatte nur diesen einen Versuch und schon zuviel an Vorbereitung investiert. Sollte das dann nur an diesem unseligen Entschluss scheitern?
 

Die Tour
Es ist doch einfach zu dumm! Das kann doch nicht wahr sein!!! So eine Sch…!
Jetzt stehe ich hier, in einem Bushaltestellenhäuschen in Bützow und Mike starrt mich entgeistert an, wie ich in einem Anfall von Schüttelfrost versuche, mit flatternden Fingern den Fahrradcomputer wieder an den Lenker zu stecken.
Auf dem Zähler stehen 371,48 Kilometer, es sind nur noch ca. 50 Kilometer bis zum Ziel. Und ich versuche, mich, hier in der kühlen Abendluft, krampfhaft zu beruhigen.
Mein erster Gedanke ist Aufgeben! Ab ins warme Auto, trockene Klamotten anziehen und diese Aktion einfach zu beenden! Was soll dieser ganze Unfug, in diesem Moment noch 50 Kilometer fahren zu wollen?! Das überstehe ich nie!
Ich kenne diesen Zustand, nach einer harten Tour in durchgeschwitzter Kleidung, übermüdet und erschöpft… Da hilft nur ganz schnell viel Wärme. Im Auto ist es sicher gemütlich.
Aber nun habe ich es einmal bis hierher geschafft! Es sind nur noch 50 Kilometer flaches Land! Es ist noch hell, die tief stehende Abendsonne zaubert kräftige Lichter und Farben, ich liege gut in der Zeit…
 
***
Erstaunlicherweise habe ich, als mein Wecker 02.25 Uhr klingelt, sogar ein paar Stunden schlafen können. Und obwohl ich ziemlich müde vor dem Spiegel stehe, fühle ich mich ausgeruhter, als wenn ich zwei Stunden länger geschlafen hätte.
Die Taschen und den Rucksack habe ich gestern gepackt, ich dürfte auch nichts vergessen haben. Die Frühstücksbrote sind ebenfalls schon geschmiert, der Capuccino ist schnell gekocht, so dass ich keine zusätzliche Zeit verliere. Meine Familie und Mike schlafen tief und fest, als ich 03.05 Uhr auf dem Rad sitze.
Die große Tour beginnt.
Es ist dunkel, aber im Osten kündigt ein heller Schimmer schon den neuen Tag an. Musik vom MP3-Player begleitet mich nun ein ganzes Stück, Roger Waters mit seinem „Radio K.A.O.S.“ und Fischer Z. Das ist vielleicht nicht ganz die passende Musik, aber besser als die Windgeräusche an den Ohren. Zur Sicherheit habe ich auch meine Kappe unter dem Helm aufgesetzt. Einfach, um zu vermeiden, dass mich der den ganzen Tag wehende Wind mit seinem Knattern und Flattern fertig macht. Die Kappe schirmt das hervorragend ab.
Panitzsch, Taucha in der Dunkelheit, ich beginne sehr gemäßigt, fahre auch die Hügelchen nur in kleinen Gängen und langsam. Oberstes Motto: Kräfte schonen!
Die folgenden Kilometer sind mir wohl vertraut, Liehmena, Mutschlena, Wölkau, im Osten wird es hell… In den Waldstücken pfeife ich vor mich hin, in der Hoffnung, dass sich Wildschweine, die möglicherweise ein Problem mit mir haben könnten, rechtzeitig abschrecken lassen.
Reibitz, Löbnitz, der Morgen dämmert. Und der Wind weht, ich kann es kaum glauben, aus Südwest.
Euphorie kommt auf, steigt hoch… Es rollt fast von allein, ich bin schon jetzt wesentlich schneller als ich je vermutet hätte. Wenn das so weitergeht!
Drüben, jenseits des Goitzsche-Sees sehe ich die Silhouette von Bitterfeld, Friedersdorf, dann erlebe ich den Sonnenaufgang am Muldestausee und die erste Pause mache ich nun nach zwei Stunden in Muldenstein (05:15 – 05:25, 53,05 km, 2:03:09).
Recht flott geht es weiter, nun entlang der Mulde, immer noch ist mir die Strecke gut bekannt, durch die Auwälder um die Mittlere Elbe. Die gefürchtete Stadtdurchfahrt in Dessau ist an sich kein Problem, es sind nur wenige Fahrzeuge um diese Zeit unterwegs. Aber die Radwege die ich benutzen muss, sind so mies, dass ich um das Rad fürchte.
Auf der Elbebrücke, als ich Fotos mache, ruft mir ein Motorrad-Fahrer zu, dass ich nicht von der Brücke springen solle. Na, heute wohl doch eher nicht 😉
Roßlau erreiche ich 6:35 Uhr nach 82,30 Kilometern. (3:09:35) Von Roßlau an führt die Route nun ganz sanft und leicht ansteigend hinauf in den Fläming. Am Ortseingangsschild in „Hundeluft“ sind Fotos natürlich obligatorisch, ehe es nun in die Wälder des Fläming hinein geht.
Kurz vor Stackelitz (07:20 – 07:30, 100,09 km, 3:49:54) mache ich auf einem Waldweg die zweite Pause. Die ersten 100 Kilometer sind absolviert, ein Viertel der Strecke.
Essen, Banane, ein belegtes Brötchen, Trinken, es ist nicht so warm, dass ich viel schwitze, aber trotzdem muss der Flüssigkeitshaushalt stimmen. Und ich sende die erste SMS an Mike, der nun langsam los fahren wollte. Die Wälder des Fläming scheinen endlos, ich entdecke zwei Schwarzspechte am Straßenrand und dann galoppiert plötzlich neben mir am Rand eines Waldstücks eine Bache mit ihren Frischlingen ins Unterholz. Na zum Glück raste die nicht in die entgegengesetzte Richtung!
Wiesenburg ist mit 169 m heute der höchste Punkt, den ich erreiche. Nun geht es lange lange leicht abwärts nach Ziesar. Leider spüre ich nun auch den Wind etwas deutlicher und unangenehmer von der Seite. An diese Dörfer kann ich mich übrigens ganz dunkel erinnern. Hier fuhren wir auf unserer zweiwöchigen Ostsee-Tour 1983 durch. Und so viel verändert hat sich hier seit der Wende scheinbar nicht. Kurze Zeit, nachdem ich die Autobahn Berlin – Magdeburg – Hannover unterquert habe, erreiche ich Ziesar (08:56, 138,69 km, 5:17:50). Einige Kilometer weiter in Rogäsen hatten wir das erste Treffen geplant. Ich sende Mike eine zweite SMS und einige Minuten später bin ich schon in Rogäsen.
Doch Mike ist nicht zu sehen, ich fahre weiter, komme bis Wusterwitz (09:35 – 09:40, 152,84 km, 5:48:18), dort rufe ich Mike kurz an. Aber der ist noch in der Nähe von Wiesenburg, er ist erst spät los gekommen. So lange, bis er hier ist, will ich allerdings nicht warten, ich mache nur eine kurze dritte Rast, esse wieder etwas und dann geht es weiter. Wir vereinbaren den Ortseingang von Schollene bei Rathenow als Treffpunkt, wo er auch etwas zum Mittag besorgen wird.
In Wusterwitz führt die für Autos wegen Bauarbeiten gesperrte Brücke über den Elbe-Havel-Kanal. Mit Fahrrad kommt man aber tatsächlich fast überall durch. Obwohl mir immer noch die Aktion vom Elstertal am 23.5. in Erinnerung ist. Immer klappt es auch mit dem Rad nicht. Nun lauern zwei Kilometer anstrengender Gegenwind bis Bensdorf auf der Bundesstraße Brandenburg – Genthin, mit kleineren Gängen ist das aber auszuhalten, dann folgt wieder eine ruhige Landstraße und weiter bis Knoblauch. Fotos sind Pflicht, versteht sich. 
Jerchel, Milow, brandenburgische Dörfer, Felder, Wälder, eine weite ruhige Landschaft an der Havel. Kurz vor Premnitz geht es parallel zum Fluss nach Norden, westlich von Rathenow nehme ich dann die Straße in Richtung Sandau, Havelberg. Interessant sind die hier teilweise sehr großzügig ausgebauten Straßen, allerdings sind kaum Autos zu sehen. Man scheint hier sämtliche Fördermittel in den Ausbau der Infrastruktur gesteckt zu haben, nur gibt es in dieser Region nicht mehr viele Menschen, die diese Infrastruktur nutzen können. Die Straße nach Sandau führt durch hügeliges Gelände und inmitten der Wälder durch militärisches Übungsgebiet. Die Panzer- und Schießplatz-Hinweisschilder wirken schon ein wenig beängstigend.
Und ich spüre allmählich, wie meine Kräfte nachlassen. Noch sind es keine 200 Kilometer, die ich gefahren bin, doch ganz schnell melden sich da plötzlich an den Hügelanstiegen die ersten Zweifel. Es ist so unheimlich weit! Durst habe ich jetzt auch und der Magen meldet sich, weil er Hunger bekommt. Ist das Dorf dort Schollene?
Neuschollene! So was auch…
Noch zwei Kilometer, ein Hügel, dann ist endlich Schollene in Sicht. Am Ortsschild halte ich, warte, rufe Dagi kurz an, um ihr zu versichern, dass alles noch ok und perfekt ist und telefoniere dann wieder kurz mit Mike. Es ist ein wenig wie verhext. Wo bleibt er nur?! Ich liege eine halbe Stunde vor dem Zeitplan, bin bis hierher ungewöhnlich schnell gefahren und habe einen reichlich 26er Schnitt. (11:32 – 12:22, 196,17 km, 7:30:32))
Entwarnung, Mike musste beim Chinesen anstehen, er ist wenige Minuten später da. Und nun machen wir auf einem kleinen Wanderparkplatz in der Nähe eine große Mittagspause, er hat Nudeln beim Chinesen besorgt und außerdem noch Kuchen gekauft! Perfekt. Ohne ihn wäre ich erledigt.
Ein wenig kühl scheint es mir, auf die Jacke und die Beinlinge werde ich heute nicht verzichten können. Das Essen schmeckt, ich trinke nun auch Cola, um den Zuckerspiegel oben zu halten 🙂 Was tut man nicht alles für eine Radtour…
Und dann geschieht quasi das Wunder, meine Ermüdung auf den letzten Kilometern vor der Pause ist wie weggeblasen. Als ich wieder auf das Rad steige, kommt es mir so vor, als hätte ich nicht schon 200 Kilometer in den Beinen, sondern würde jetzt erst starten. Die 200-Kilometer-Marke erreiche ich kurze Zeit später in Molkenberg.
Bei einem „normalen“ Marathon wäre ich jetzt am Ziel. Der Wind auf dem Abschnitt bis Sandau ist leider wieder sehr unangenehm, die Böen bremsen mich stellenweise bis auf 20 km/h ab. Mike fährt ein paar Minuten lang auf der leeren Straße ein Stück vor mir, ich nutze den herrlichen Windschatten, aber das ist ja eigentlich Beschiss, so dass ich ihm dann doch abwinke und voraus fahren lasse.
Sandau, hier überquerten im September 2005 Spanni und ich auf unserer Elberadwegtour die Elbe auf dem Weg nach Tangermünde und von hier bis nach Hause brauchten wir damals noch zweieinhalb Tage.
Havelberg ist dann auch nicht mehr weit entfernt, ich rolle über die alte Havelbrücke, fotografiere die Altstadt am Fluss und nehme dann den 6%er in der Stadt unter die Räder. Nun geht es schnurgerade 20 Kilometer auf einem Radweg entlang der Bundesstraße nach Norden, gen Pritzwalk. Unser nächster Treffpunkt ist Groß Welle ca. 20 Kilometer vor Pritzwalk. Der Wind unterstützt mich nun wieder wunderbar, nach nicht einmal zwei Stunden bin ich am Ortseingang von Groß Welle (14:15 – 14:25, 244,56 km, 9:17:38) Die Wolken sehen mittlerweile manchmal ein wenig finster und drohend aus, die Regenschleier lassen auch nichts Gutes vermuten. So werde ich nach der Pause auch immer schneller, als von Westen solche Schleier heran wehen. Glück gehabt, diese Wolke habe ich hinter mir gelassen.
Kurz vor Pritzwalk ist die Straße pitschnass, hier hat es gerade gegossen, ich habe allerdings keinen Tropfen abbekommen. Pritzwalk: die Schnellstraße kann ich ja nun leider nicht nehmen, mir bleibt nichts übrig, als in die Stadt hinein zu fahren. Und hier erlebe ich heute erstmalig ganz tolles Kopfsteinpflaster, auf dem ich bei dem Reifendruck von 8,5 bar kräftig durchgeschüttelt werde. Die Beschilderung nach Parchim ist eindeutig, allerdings kommt es mir so vor, als ob das die falsche Richtung ist, denn diese weist nach Norden, Parchim liegt aber nordwestlich!
Und tatsächlich komme ich auf Grund dieser Wegweisung in den Genuss, auf einer Umgehungsstraße noch eine Ehrenrunde zu absolvieren. Klasse!
Das Schild „Güstrow 80 km“ beschäftigt mich auch ein wenig. Könnte ich hier vielleicht wirkungsvoll abkürzen? Von Güstrow bis Rostock ist es ja auch nicht mehr sehr weit. Aber dann müsste ich die stark befahrene Bundesstraße über Plau am See nehmen. Nach Parchim zu ist die Route hoffentlich um Einiges ruhiger. Putlitz, 20 Kilometer weiter, es rollt immer noch gut. Die Hügelkette westlich ignoriere ich, doch dann gibt es eine böse Überraschung. Gerade diese Hügelkette, die Ruhner Berge (!) liegt im Weg. Das bedeutet, dort muss ich hinüber!
Über diese Hügel, die ich nicht eingeplant habe! Anstiege bis zu 5%, die mir nunmehr schwer zu schaffen machen und die ich nur noch mit maximal 18 km/h hinauf schleiche. Inmitten dieser Hügellandschaft passiere ich die Autobahn Wittstock – Hamburg, dann steht Mike am Straßenrand und weist mich ein, dass wir uns in Suckow in der Talsenke (!) am Bushäuschen treffen. Suckow, es ist Kaffeezeit 🙂 (16:15 – 16:45, 288,88 km, 11:00)
 Mike packt seinen prima Kuchen aus, ich werfe zusätzlich noch ein paar Körner Magnesium und Energiepulver ein. Das hilft! Auch wenn die Hügelfahrt ein wenig an den Kräften genagt hat. Trotzdem ist die Stimmung immer noch erstaunlich gut, Dagi ist überrascht, wie gut ich am Handy noch klinge. Denn weit mehr als die Hälfte der Tour ist überstanden. Und noch habe ich Reserven! Auch wenn ich in dieser Pause nach einer Möglichkeit suche, die bis Parchim noch folgenden Hügel zu umgehen. Eine Variante wäre die Straße über Siggelkow, aber als ich auf der Weiterfahrt an dieser Abzweigung das Kopfsteinpflaster sehe, ist mir das Risiko zu groß und ich wähle doch lieber die Bundesstraße.
So kommt es noch zu ein paar zusätzlichen Anstiegen, die mir nicht recht gefallen. Der Blick von den Höhen nach Norden zeigt ganz flaches Land und ausgerechnet diese blöde Straße nimmt wahrscheinlich die einzigen Hügel weit und breit mit. Na ja, Parchim ist jedenfalls nach einer weiteren Dreiviertelstunde erreicht. Kurz vorher habe ich auf den Hügeln die 300-Kilometer-Marke erreicht. Die Radwege sind wieder erbärmlich, kleine quadratische Betonplatten, von denen eine schiefer als die andere liegt. Und das mit dem Rennrad. Zudem muss ich mich konzentrieren, ausgeschildert sind nur Schwerin und Lübz, die Straße nach Sternberg nicht zu verpassen.
Auf meinen Wunsch haben wir die Abstände zwischen den Treffs auf ca. 40 Kilometer verkürzt. Das ist mir im Augenblick lieber, die Pausen häufiger zu machen und so die Kräfte noch zu schonen. Die Gegend wird nun wieder flacher, auf der Straße nach Sternberg befinde ich mich glücklicherweise nun auch, der Wind schiebt ein wenig, einfach genial. Außerdem bewege ich mich nunmehr im längenmäßigen persönlichen Rekordbereich. In Mestlin, unserem nächsten Treffpunkt, stehen 327,90 km auf dem Zähler. So weit bin ich an einem Tag noch nie mit dem Rad gefahren. (18:18 – 18:30, 12:31) Essen kann ich im Augenblick nur eine Banane und ein Hanuta, aber das hilft auch. Gute Idee von Zwinki. Denn Hanuta geht immer, auch wenn nichts mehr schmecken will, und rettet mich letztendlich vor einem Hungerast.
Ich stecke nun auch wieder die Lampen ans Rad, auf den Alleen war es doch schon recht dämmerig und von einem rasant fahrenden Mecklenburger möchte ich nicht auf die Hörner genommen werden. Nächster Treff soll Bützow sein, wir haben überschlagen, dass es bis Warnemünde noch ca. 90 Kilometer sind. Das klingt ziemlich gewaltig. Und Mike muss mir wohl in dem Augenblick angesehen haben, dass diese Zahl meinen Optimismus doch etwas angekratzt hat. Noch 90 Kilometer, unter „normalen“ Umständen ist das eine Tagestour.
3,5 Stunden, da könnte man mit Pausen schätzen, ca. 22:30 Uhr in Warnemünde zu sein. Bis Sternberg komme ich jetzt zügig voran, für die Landschaft habe ich sogar ab und zu auch noch einen Blick. Und der See inmitten der Hügel gefällt mir. Nur die Hügel dann nicht! Denn auch die waren ebenfalls nicht mehr so richtig eingeplant. Und die haben es stellenweise in sich. Ein einzelner Rennradfahrer kommt mir entgegen, der sieht noch recht erholt aus, er grinst, als er mich sieht. Möglicherweise wirke ich nicht mehr ganz so taufrisch und sehe wohl auch in meiner Kluft etwas ungewöhnlich aus.
Ein kleines Umleitungsschild in Sternberg macht mich außerdem noch unsicher. In Bützow soll die Ortsdurchfahrt gesperrt sein. Nicht das auch noch! Für große Umwege habe ich nun nicht mehr die Kraft. Ich überlege schon, mich im Notfall von Mike dann um den Ort herum chauffieren zu lassen und hinter Bützow weiter zu fahren. Aber erst einmal sehen, mit dem Rad kommt ja man fast überall durch… (Na gut, nicht überall!)
Nach einigen weiteren Anstiegen, an denen mich Mike ausgerechnet noch filmt, und Abfahrten, erreiche ich endlich Warnow im Warnowtal. Das wird es wohl nun hoffentlich gewesen sein! Bitte ab sofort keine Hügelketten mehr, die überquert werden müssen, entlang der Warnow hoffe ich jetzt, endgültig bis Rostock zu kommen. Meine Stimmung wird besser, es fährt sich wieder wunderbar, das Abendlicht ist einfach schön, die Landschaft herrlich und was kann es Schöneres geben, als an einem solchen Tag von Zweenfurth nach Rostock zu fahren 😉
Der kleine Schreck kurz hinter Sternberg, dass Bützow noch 28 km entfernt sei, wird wieder ausgeglichen, als kurz vor Warnow 18 km und einen Kilometer weiter nur noch 11 km angegeben sind.
Wie auch immer die das hier mit dem Entfernungsmessen machen, die 11 Kilometer finde ich auf jeden Fall am Besten. Mike fährt hinter mir her, dann wiederum steht er an der Straße und filmt mich.
Tja und dann komme ich nach Bützow. Von Mike, der häufig auf den letzten Kilometern zu sehen war, ist plötzlich keine Spur mehr zu sehen. Weder am Ortseingang, noch im Ort oder dann hinter dem Bahnhof am zuerst vereinbarten Treffpunkt. So sitze ich allein im Bushäuschen, rufe ihn an und erfahre, dass er die falsche Straße genommen hatte und in Richtung Güstrow abgeschwenkt ist. Wenige Minuten später ist er hier.
Aber diese paar Minuten, ich trinke nach wie vor kalte Apfelschorle, mit und ohne Energy-Pulver, esse eine „kalte“ Banane und habe feuchte Sachen an, scheinen mir den Rest zu geben. (20:20 – 20:35, 371,48 km, 14:15)
 Als ich mich auf den Weg machen will, spüre ich auf einmal schon im Sitzen, wie meine Beine zu zittern beginnen. Und dann packt mich dieser blöde Schüttelfrost, ich friere und Mike guckt entsetzt zu und weiß auch nicht so recht, was er machen soll. Ist das nun die blanke Erschöpfung, der Kollaps? 
Habe ich mich hochgepusht und nun kommt der Zusammenbruch?! Das Ende der Tour, 50 Kilometer vor dem Ziel??? Schrecklich…
Ich denke an die Momente, als ich im letzten Jahr nach dem Niederlausitz-Marathon mit dem Zug aus Cottbus zurück kam und in Taucha ausstieg. Und wie mich dort der Schüttelfrost packte, so dass ich kaum auf dem Rad sitzen und fahren konnte. Da waren es aber nur 10 Kilometer bis nach Hause. Und dann denke ich auch daran, wie rasch es mir auf den 10 Kilometern wieder warm wurde, dieser Anfall überstanden war. Im Prinzip muss ich nur so zügig fahren, dass mir wieder warm wird. Aber wie soll man nach 371 Kilometern noch zügig fahren?!
Irgendwie gelingt es mir, den Fahrradcomputer wieder anzustecken und auf den Sattel zu krabbeln. Ein wenig zitternd trete ich in die Pedale, verstecke mich bis zum Kinn in der Jacke, die aber auch nur feucht ist, so dass zumindest der Fahrtwind keinen Angriffspunkt findet. Und siehe da, es geht!
Erst einmal die 14 Kilometer bis Schwaan überstehen, in Niendorf, 7 Kilometer vor Rostock wollen wir uns zum letzten Mal treffen und dann wird Mike auf der Autobahn nach Warnemünde fahren und ich muss durch die Stadt. Einige Zeit später wird mir tatsächlich wieder etwas wärmer.
 Es geht!
Hans Harz‘ Lied „Nur noch 95 Tage“ geht mir durch den Kopf…  „Nur noch 95 Tage, dann ist alles vorbei, nur noch 95 Tage, dann ist er wieder frei…“
Nur noch zwei Stunden, dann ist alles vorbei…
Die Straße verläuft zum Glück sehr flach bis Schwaan, ich komme erstaunlich gut vorwärts. In Schwaan überquere ich die Warnow und sehe Sekunden später erschreckt den Berg nach Ziesendorf vor mir! Obwohl ich tief im Innern schon befürchtet hatte, dass man ja irgendwie auf der kürzesten Strecke hinüber nach Rostock aus dem Warnowtal heraus müsse. Aber auch das überstehe ich und habe nicht unbedingt das Gefühl, mich hier völlig zu verausgaben. Wenn es wärmer wäre, die Abendluft ist sehr frisch geworden, würde es sogar noch Spaß machen.
Kurze Pause, Mike ist zur Stelle, dann weiter, Ziesendorf, Abbiegung nach Rostock, ein Schild „Rostock 11 km“. Obwohl ich weiß, dass von dort bis Warnemünde noch ca. 15 Kilometer zu fahren sind und ich den Stadtdurchfahrtsplan von Rostock zu Hause vergessen habe, das Risiko mich zu verfahren also recht groß ist, nimmt mein Optimismus zu. Kurze Zeit vor Niendorf stehen 400 Kilometer auf dem Zähler!!!
Die Pause in Niendorf halten wir nun auch so kurz ab, dass ich gar nicht groß zur Ruhe komme und somit auch die nächste Schüttelfrostattacke nicht erlebe. Es wird allmählich dunkel, trotzdem ist der Tag hier oben im Norden spürbar länger als bei uns. Es ist schon 22 Uhr und noch immer dämmert es. Und dann am Rande eines Gewerbegebietes steht plötzlich das Schild!
„Hansestadt Rostock“!
 In der Dunkelheit erreiche ich den Rand des Zentrums, auf den Radwegen, Warnemünde ist dort ausgeschildert, finde ich mich recht schnell zurecht. „Warnemünde 17 km“ erschreckt mich nur kurz, das schaffe ich nun auch noch! Und dann passiert es doch, dass ich nach einer Abbiegung der Straße, auf der ich fahre, eben diese Straße zur Schnellstraße wird. Mist! Ein Stück zurück, ein Radweg, im Dunkeln kaum zu erkennen, Mike Bescheid geben, dass er trockene Klamotten zum Teepott mitbringen soll und dass ich etwas später komme, eine Laubenpieperin am Wegrand nach dem Weg nach Warnemünde fragen…
Das alles in wenigen Minuten, dann befinde ich mich glücklicherweise wieder auf der richtigen Route, muss nur noch ein paar verdutzte Rostocker, die sich sicher auch über den Idioten mit dem Rennrad wundern, der sie an der Stadtautobahn nach Warnemünde nach dem Weg nach Warnemünde fragt, um Orientierungshilfe bitten. Einfach geradeaus, man kann sich da nicht verfahren. Na ja…
Die letzten Kilometer an diesem Tag!
Entlang der stark befahrenen Stadtautobahn rolle ich immer noch mit einem guten Tempo nach Norden. Evershagen, Lütten Klein, Lichtenhagen…
Warnemünde…
Minuten später kurve ich durch Warnemünde auf der Suche nach dem Teepott, komme am Hotel Neptun vorbei, mache dann noch eine kleine Runde zum Strom hinüber, viele Urlauber sind hier, das Nachtleben ist beeindruckend. Die Lichter, die Geschäfte und Restaurants, die glitzernden Wasser des Stroms.
Und dann ist da auf einmal der Teepott! Und daneben steht immer noch der Leuchtturm!
Und wo ist Mike?! Ich kreise suchend um den Teepott, dann glaube ich, ein Stativ zu erkennen.  Das isser… Wer sonst treibt sich um diese Zeit hier schon ausgerechnet mit einem Stativ zwischen den ganzen Leuten, die auf Vergnügung aus sind, herum.
23:18 Uhr ist es und es ist überstanden!
Umarmung, Gratulation, Dank an Mike, er hat einen großen Anteil am Gelingen dieser Fahrt, ohne ihn wäre diese Ostsee-Tour 2008 nicht durchführbar gewesen…
Die Siegerfotos müssen selbstverständlich noch gemacht werden, er macht das professionell teilweise im Liegen, ein paar Frauen amüsieren sich köstlich darüber.
Und dazu gibt es einen Schluck „Brocken-Blick“.
Einen „Ostsee-Blick“ hatte ich zu Hause leider nicht im Schrank 😉
Zweenfurth – Warnemünde, die Ostsee-Tour 2008 ist tatsächlich im ersten Versuch bestanden!
424,04 Kilometer habe ich auf dem Rad heute zurück gelegt in einer Netto-Fahrtzeit von 16:34 Std. und dabei ungefähr 1200 Höhenmeter überwunden.
Mit einem Schlag überfällt mich nun die Müdigkeit.
Der Körper weiß, dass die Hochspannung, unter der er den gesamten Tag stand, endlich vorbei ist und nutzt das nun aus, um sich bemerkbar zu machen. 
Es ist vorbei!!!!
Wir laufen zum Auto, welches Mike am Hotel Neptun geparkt hat, dort schlüpfe ich endlich in trockene Kleidung, sofort wird es wärmer, dann schieben wir das Rad zum nächtlichen Strand und Mike schießt dort noch ein paar Fotos.
Nur zu einem Fußbad im Meer kann ich mich nicht hinreißen lassen, das macht dann nur Mike, ich friere schon wieder, bekomme erneut Gähnanfälle, dass ich schon fürchte, mir renkt es den Unterkiefer aus. 
Am Horizont, wo etliche hell erleuchtete Schiffe zu sehen sind, sind immer noch die Lichter der Sonne zu erkennen. Ob es hier oben überhaupt um diese Jahreszeit richtig dunkel wird?
Und mich beschleicht in diesen Minuten ein recht groteskes, eigenartiges Gefühl.
Ist das tatsächlich meine Wirklichkeit, innerhalb von sechzehneinhalb Stunden mit dem Fahrrad durch ganz Ostdeutschland hier ans Meer gefahren zu sein? Nur, um jetzt übermüdet hier zu stehen (zu frieren) und auf die rauschenden Wellen des nächtlichen Meeres zu schauen.
 Oder war das nur ein Traum?
 Epilog:
Da es uns aussichtslos erschien, eine preiswerte Unterkunft um diese Nachtzeit zu finden und auch im Auto nur wenig Platz zum Schlafen war, haben wir beschlossen, noch in der Nacht zurück zu fahren.
0:20 Uhr fahren wir ab und nach zügiger Fahrt sind wir 3/4 4 in Zweenfurth. Mike hält das noch gut durch, ich nicke für 2 1/2 Stunden ein. Im Osten sind erste Lichter des neuen Tages zu sehen, als wir ankommen.
Vor 25 Stunden bin ich gestartet.
Mit dem Rad an die Ostsee.

Die Route auf gpsies.com
 

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