Vierter Tag 09.06.2012
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden.
(Mark Twain)
Die Kür
Ein zarter Patsch mitten ins Gesicht weckt mich. Die Augen bekomme ich nur schlecht auf, mit ein wenig Blinzeln kann ich aber erkennen, dass es halb sieben ist.
Eine gute Zeit! Die Sonne scheint, das Aufstehen fällt erstaunlicherweise auch nicht schwer. Heute bringen wir das Ding zum guten Ende! In aller Ruhe sortieren wir die Sachen aus, die ich noch im Rucksack mitnehme und die im Auto transportiert werden.
Unsere Tochter hat keine Lust auf Göttingen, also werden sie nach der Abmeldung gleich wieder nach Hause fahren.
Zwei Stunden Fahrt auf der A38, das ist zu verschmerzen.
Die Pension ist übrigens voll ausgebucht, wir hatten großes Glück, der etwas servile Senior-Chef scharwenzelt zuvorkommend pausenlos um seine asiatischen Gäste herum.
Na mäg.
Das Frühstück ist üppig, sehr schön, besonders das Rührei.
Obwohl mein Appetit ungeheuer ist, schaffe ich es gerade so, zwei der recht kleinen Brötchen inkl. zwei Tassen Kaffee zu vertilgen. Mehr geht nicht.
Und die Unruhe vor der Fahrt wächst auch schon wieder.
Holger: „Moin moin, bin halb zehn am Bahnhof, lass dir Zeit und frühstück ordentlich B)“
Die Disney-Manie des Gastgebers ist mir ein wenig unverständlich das Ganze wirkt zusammengestückelt, es wäre sicher auch dezenter gegangen, aber wir wollen nicht meckern.
Trotzdem ist es sehr sehr angenehm, hier in diesem etwas plüschigem Ambiente zu sitzen.
Die Schlafpause und das Frühstück haben wieder enorm zur Regeneration beigetragen, so dass ich kurz nach 9 Uhr tatsächlich (mit etwas schweren Beinen) auf dem leichten Rad sitze und auf die letzten 250 Kilometer starte.
Abschied vom Familienteam heute Abend sehen wir uns wieder, wenn alles wie geplant rollt.
Das Werratal und dann das Eichsfeld, welches ich auf dem Weg nach Heiligenstadt überquere, zählen nun zum schönsten Abschnitt der ganzen „Randonnée de Paris à Zweenfurth“. Wunderbar das Grün der
waldreichen Landschaft, wunderbar die sanften Täler und Höhenzüge.
Ich genieße es richtig, selbst das Bergauf-Kurbeln, nachdem ich den richtigen Gang und Trittfrequenz gefunden habe, ist einigermaßen entspannend.
Der schmutzige Rest wird
im Auto transportiert
Ungeheuer ist der Drang, endlich nach Hause zu kommen.
Viertel elf, nach 879,5 Kilometern (24 km) bin ich am Bahnhof Heiligenstadt, Holger musste etwas warten, hat aber vollstes Verständnis.
Wie er mir später erzählt, hat er zunächst seine Zweifel, ob ich das heute, so wie ich aussehe, überhaupt noch schaffen würde. Das ist mir selbst gar nicht so bewusst, doch auch auf meine Frau muss ich wohl ziemlich dünn und verfallen gewirkt haben.
Aber es ist ein Phänomen trotz aller Äußerlichkeiten hat sich mein Körper so umgestellt, dass die vorhandenen Reserven bei gleichbleibender Belastung an der unteren Levelgrenze wohl noch sehr weit ausreichen würden. Ob ich auch Kraftspitzen bewältigen kann, zeigt sich später auf dem schönen Talweg nach Leinefelde. Die kleinen Anstiege schaffe ich noch in gutem Tempo, allerdings gehen diese schon arg an die Substanz.
Der Wind leistet wieder einen enorm großen Beitrag, zu Zweit fährt es sich sowieso besser, gerade, wenn mich nun Holger doch etwas ziehen kann. Kurze Pause in Bernterode, wir haben einige Zeit verloren, als wir bei Leinefelde den Weg zur Straße zurück finden mussten. Das große Brötchen kann ich nicht essen, aber Holgers Energieriegel lässt sich etwas leichter kauen und schlucken. Und dann rollt und rollt es im Eiltempo. Niedergebra, Nohra, dann südlich des Kyffhäuser entlang gen Sondershausen.
Als wir dort sind, ist es bereits 14 Uhr, ca. 100 Kilometer (950 km) sind zurückgelegt. In Sondershausen große Rast, Nudeln und geröstetes Entenfleisch beim Thai, dazu eine Cola lecker!!!
Dann weiter, es folgt eine Kopfsteinpflasterpassage, die meine zunehmenden Sitzbeschwerden verstärkt. Aufgerieben ist nichts, das ist erst einmal positiv, aber nach drei Tagen ununterbrochenem Radelns machen sich sehr schmerzhaft Druckstellen im Sitzbereich bemerkbar, gegen die ich nur schlecht eine ansprechende Position auf dem Sattel finde. Das Auf- und Absteigen wird allmählich zur Hölle.
Das ist nun eine weitere Erkenntnis für mich. Ich verfüge zwar noch über ausreichende Energiereserven, der Willen ist ebenfalls stark genug, aber der Körper signalisiert mir deutlich eine Art Endpunkt.
Bis hierher und nicht weiter.
Spätestens jetzt wird mir bewusst, dass ich meine derzeitige Grenze erreiche, hinter der, wenn ich diese mutwillig überschreite, physische Schäden drohen. Mehr geht nicht. Würde diese Tour noch wesentlich länger sein, dann müsste ich die strikt hier beenden. So aber sind es „nur“ noch rund 100 Kilometer.
Es riecht schon nach Heimat, das Ziel ist fast in Reichweite. Und ich würde das Ganze nach einem Abbruch nicht noch einmal versuchen können oder wollen.
Was sagt nun der gesunde Menschenverstand?
Soll ich den Schmerz für den kläglichen „Rest“ der Tour ignorieren und weiter fahren oder den nächsten Bahnhof suchen?!
Mein Willen, die Tour erfolgreich zu beenden, ist so stark wie nie zuvor.
Der treibt mich an.
Ich würde es mir jetzt zu diesem späten Zeitpunkt wirklich nicht verzeihen können…
Hundert gehen doch bitte schön immer noch…
Also aufsteigen es ist nicht mehr weit!
Ein schöner Blick bietet sich nun auf das Kyffhäuser-Gebirge von Süden.
Die teilweise recht spärlich bewachsenen Gipshänge entlang des Wippertals haben hier, im Gegensatz zur mitteleuropäisch üppig grün bewaldeten Nordseite, fast mediterranen Charakter. Bad Frankenhausen, schnelle Fahrt nach Artern, dann sind wir schon im Unstruttal.
In Wendelstein erreichen wir den Kilometer „1.000“!
1.000 Kilometer nonstop auf dem Rad von Paris bis hierher. Das ist, zumindest für mich, unglaublich.
Dank an dich Körper, Dank ans Material, Dank an Euch Begleitfahrer(innen) dass Ihr mich nicht im Stich gelassen habt.
Weiter geht es durchs Unstruttal, durch Nebra, durch Laucha. In der Straßenbaustelle kurz vor Laucha schaffe ich es auf einem sandigen Stück sogar noch, mich samt Rad hinzulegen.
Na gut, vergessen. Die verbleibenden Anstiege bis Freyburg sind dann gar kein Problem mehr.
Ca. 180 (1.030) TagesKilometer liegen hinter uns, als wir in Freyburg an der Unstrut noch einmal in einem schönen Freisitz ein Radler trinken und eine Bockwurst genehmigen. Gegen 19 Uhr wird es sein, im Fernsehen läuft das erste EM-Fußballspiel Dänemark gegen die Niederlande. Die Straßen sind menschenleer. Gemütlich.
Anschließend der letzte „Berg“ hinüber nach Weißenfels.
Ich bin Holger sehr dankbar, dass er mich begleitet, so fällt das letzte Stück nicht so schwer, allein hätte ich mich vermutlich etwas gehen lassen, hätte gebummelt, aber so haben wir immer noch einen recht guten Schnitt, mit dem wir bald Weißenfels erreichen.
Und noch nie habe ich mich über den Anblick der Rauchwolke von Lippendorf, die ich zum ersten Mal auf der Anhöhe bei Goseck sehe, so gefreut wie heute.
Weißenfels – Saalebrücke die Assoziation zum RAAM und Mississippi hatte ich schon einmal im Tourenbericht zum 350er beschrieben.
Die RAAMFahrer, die den Mississippi erreicht haben, finishen in der Regel auch. Die Saale ist auch heute wieder mein „Mississippi“. Ich bin bis hierher gekommen, nun ist der Rest auch noch zu schaffen.
Die Route unterquert die A9 im Rippachtal, führt südlich von Leipzig über Starsiedel und Kitzen. Und so erreichen wir mit einsetzender Dämmerung Leipzig.
Auch das MDR-Hochhaus, welches ich aus einiger Entfernung schon sehe, facht meine Euphorie an. Da könnte man sich glatt ein kleines Tränchen der Rührung abdrücken.
Paris Leipzig, nun ist es Tatsache! Wahnsinn! Ich glaube es selbst
kaum.
Auf das Foto am Ortsschild „Leipzig“ verzichte ich, die Zeit drängt.
Ohne Pause geht es vorbei am Cospudener See, nun auf meiner „Feierabend-Strecke“ hinüber zum Markkleeberger See.
Es wird schon wieder dunkel, die Lampen liegen im Auto, ich hatte nicht gedacht, so spät anzukommen.
Holger verlässt mich schließlich in Wachau, vielen Dank, das war die beste Unterstützung heute und er ist nun noch ein „Zeuge“, der mir die erfolgreich absolvierte „Le Mille de Paris à Leipzig 2012“ bestätigen kann. Im Halbdunkel schon fahre ich via Liebertwolkwitz, Holzhausen hinüber nach Kleinpösna und im letzten Tageslicht rufe ich von der Hirschfelder Kreuzung zu Hause an. In fünf Minuten bin ich zu Hause, ist das Ziel erreicht!
Es ist nun wirklich einfach schön, ich genieße die Stimmung, das gemächliche Ausrollen in den letzten Momente auf dem Rad noch einmal so richtig.
Das kommt nie wieder.
Ich glaube, nie wieder werde ich so etwas in diesem Maß erleben.
Alles andere, so wie ich es auch 2006 nach der Schweiz-Runde feststellte, kann nur noch eine Wiederholung sein.
1.103 Kilometer (248,45 km), 22:00 Uhr, 52:17 Std. Netto-Fahrtzeit
Paris-Zweenfurth ist Geschichte
Triumphierend biege ich um die Kurve.
Und dann ist für mich die „Willkommen“-Girlande an der Haustür und die Begrüßung durch meine Frauen mehr Belohnung als das berühmte Gefühl nach einer großen erfolgreich gefahrenen Tour.
(Allerdings müssen sie vorher noch schnell die letzten Minuten des EM-Deutschland-Spiels angucken, ehe sie Zeit für mich haben) Der auf Initiative unserer Großen geschenkte Schutzengel hat mich gut behütet und nach Idee unserer Jüngsten haben sie sogar noch einen Finisher-Kuchen „Paris Zweenfurth“ gebacken.
Das nenne ich Zu-Hause-Ankommen!